Die Liste der geltenden Gesamtarbeitsverträge ist lang. Es scheint, dass beinahe jede Branche einem solchen untersteht. Doch das ist lange nicht der Fall. Auch viele der mittelgrossen Unternehmen befinden sich nach wie vor nicht in einer Sozialpartnerschaft und bestimmen die Anstellungsbedingungen selber. Bei der Sozialpartnerschaft geht es aber um weit mehr als um Lohnzuschläge und Anzahl Ferientage – daher kann sie, gerade auch aus Arbeitgebersicht, durchaus interessant sein. An dieser Stelle soll mit einigen Irrtümern, welche die Schweizer Sozialpartnerschaft betreffen, aufgeräumt werden.
1. In der Schweiz darf nicht gestreikt werden
Falsch, denn das Gegenteil ist der Fall. Die Schweiz verfügt sogar über ein verfassungsmässig garantiertes Streikrecht. Das Recht zu streiken ergibt sich aus Art. 28 III Bundesverfassung (BV). Hierbei handelt es sich um ein kollektives Streikrecht und nicht um ein Individualstreikrecht. Ein einzelner Mitarbeiter darf also nicht etwa, unter Bezugnahme auf das verfassungsmässig garantierte Streikrecht, seine Arbeit verweigern, um seine Forderung beispielsweise nach Beförderung durchzusetzen. Damit ein Streik rechtmässig ist, müssen verschiedene Bedingungen erfüllt sein. In erster Linie muss der Streik durch ein tariffähiges Subjekt geführt werden – zum Beispiel eine Gewerkschaft. Schliesslich muss es beim Streikgegenstand um Arbeitsbedingungen gehen (politisch motivierter Streik ist unzulässig); es muss die Friedenspflicht eingehalten werden und der Streik muss grundsätzlich und in seiner Ausübung verhältnismässig sein. Das bedeutet, es muss das letzte mögliche Mittel sein, um den Forderungen Nachdruck verleihen zu können.
Der Eindruck, in der Schweiz dürfe nicht gestreikt werden, kommt daher, dass durch Gesamtarbeitsverträge die Friedenspflicht zwischen der Arbeitgeber- und der Arbeitnehmerseite explizit vereinbart wird. Es überrascht zuweilen, dass in der Schweiz ein verfassungsmässiges Streikrecht besteht, in Deutschland ein solches aber weder verfassungsrechtlich noch gesetzlich zugesichert ist.
2. GAV ist ein Auslaufmodell
Stimmt nicht. Die Anzahl Gesamtarbeitsverträge, welche abgeschlossen wurden, ist sogar in den letzten Jahren angestiegen. Der hauptsächliche Grund dafür ist wohl die Einführung der Personenfreizügigkeit im Jahr 2002 und damit die Tendenz, Mindestlöhne vereinbaren zu wollen. Ungefähr jedes zweite Arbeitsverhältnis ist durch eine kollektive Vereinbarung (einen Gesamtarbeitsvertrag) geregelt, dies obwohl nur gerade knapp jeder sechste Mitarbeitende bei einer Gewerkschaft Mitglied ist. Der Blick nach Deutschland überrascht einmal mehr, denn der Organisationsgrad der deutschen Mitarbeitenden liegt ebenfalls unter 20 Prozent, also beinahe identisch wie in der Schweiz.
3. Gewerkschaften sind nur im Rahmen einer Sozialpartnerschaft aktiv
Nein überhaupt nicht. Und man tut als Unternehmen gut daran, Gewerkschaften auf der Liste der Anspruchsgruppen zu führen, egal ob eine Sozialpartnerschaft besteht oder nicht. Immer häufiger versuchen Gewerkschaften ausserhalb
ihrer klassischen Wirkungsbranchen (zum Beispiel in der Gastronomie, der Industrie oder dem Bauwesen) Fuss zu fassen und drängen sich unter anderem zunehmend in den Dienstleistungssektor. Dies erfolgt selten in ganz leisen Tönen. Vielmehr nehmen Gewerkschaften allfällige Unzufriedenheit einzelner Mitarbeiter auf und versuchen so, mit der Unternehmensleitung in einen Dialog betreffend die Anstellungsbedingungen zu treten. Ein neues Feld hat schliesslich der Gesetzgeber den Gewerkschaften zugewiesen, indem bei Sozialplanverhandlungen die Arbeitnehmerseite einen Sachverständigen, meist Gewerkschaftsvertreter, beiziehen darf.