Mensch & Arbeit

Lean Management

Was eine Fahrradtour zum Nordkap mit Lean Management zu tun hat

Leerlauf und Überlast lösen Stress aus. Während Stillstand Betriebsleiter zum Schwitzen bringt, ist Überlast sogar brandgefährlich. Denn die kurzfristig gewonnene Produktivität wird früher oder später eingebüsst: durch Regeneration und damit verbundenen Stillstand oder überanstrengte Mitarbeiter, die Fehler machen. Davor schützt der richtige Rhythmus.
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Rhythmus ist für Lean Management so wichtig wie die Atemtechnik fürs Leistungsschwimmen oder die Schaltzeitpunkte im Motorsport. Beides sieht man nicht auf den ersten Blick, aber der Takt dahinter ist entscheidend. Ohne Rhythmus keine Lean Production. Nur mit Rhythmen kann man planen. Nur so lassen sich Menschen, Maschinen und Hilfsmittel miteinander synchronisieren. Und selbstverständlich «leben» diesen Rhythmus auch die Arbeiter und Angestellten in der Produktion.

Der Rhythmus ist entscheidend

Ein funktionierender Rhythmus ist also in jeder Produktion ein Quantensprung für Effizienz und Workflow. Dass Lean Management dabei unterstützt, sehen allerdings nicht alle so. Als Lean-Enthusiast überlegte sich der Autor deshalb eine Machbarkeitsdemonstration der besonderen Art: eine lean und agil geplante Radtour von Freiburg bis zum Nordkap und zurück. 

Die Versorgung mit Lebensmitteln, Gegenwind und endlose Fichtenwälder wurden zu den vielen Herausforderungen, die mit Produktionsproblemen, kurzfristig geänderten Kundenwünschen und Lieferengpässen vergleichbar sind.

Auf der Radtour war der Rhythmus ebenfalls entscheidend. Dabei bauten sich ganz unterschiedliche Rhythmen parallel auf. Der wohl wichtigste war der Tagesrhythmus. Gegen 7.30 Uhr aufstehen, frühstücken, packen und dann konsequent 5,5 bis 6 Stunden lang in die Pedale treten – bei absolut jedem Wetter. Dazu gesellte sich der Wochenrhythmus – sechs Tage fahren und einen Tag Ruhe.

In Skandinavien entstand irgendwann der «Einkaufsrhythmus». Wo es nur alle 150 Kilometer einen Laden gibt, hält man besser jedes Mal an und packt sich die wenigen Taschen voll mit Lebensmit­-teln. Kaum hatte der Autor die nächste Einkaufsmöglichkeit erblickt, stand sein Fahrrad auch schon davor, und er deckte sich mit Müsli, Obst und anderen Pro­dukten des täglichen Bedarfs ein.

Auf der Rückfahrt erreichte der Autor irgendwann Polen. Was für ein Konsum­paradies! In jedem Dorf ein Kiosk! Manchmal zwei. Prompt war er völlig überfordert von dieser wiedergewonnenen Vielfalt. Alle zehn Kilometer stand sein Fahrrad wieder vor einem Laden und er lud sich Taschen voll mit Süssigkeiten. Die Folgen liessen nicht lange auf sich warten. Nach wochenlangem Abstrampeln war er eigentlich perfekt durchtrainiert. Wenige Tage in Polen und er sah aus, als wäre er nie losgefahren.

Wenn ihn vor der Tour jemand gefragt hätte, ob man Bauchfett ansetzen kann, wenn man bis zu sechs Stunden Rad fährt am Tag, dann hätte er wohl gesagt: Niemals. Heute weiss er: Doch, doch, man kann. Nur, weil er einmal einen Rhythmus gefunden hatte, konnte er an ihm nicht stur festhalten. In Polen hätte er die Abläufe schnell umstellen müssen, denn auf Dauer unterstützen Rhythmen nur, wenn sie an neue Gegebenheiten angepasst werden.

Der Kunde schlägt den Takt

Laufende Produktion ist Rhythmus. Doch wer gibt ihn vor? Auf der Radtour war es sein Ziel, das der Autor in einer vorgegebenen Zeit erreichen wollte – in der Lean Production ist es der Kunde. Man spricht deshalb auch vom «Kundentakt». Allerdings: Je weiter es mit kundenindividuellen Produkten geht, desto komplizierter wird es. Rhythmen gibt es trotzdem, selbst wenn man sie erst nicht sieht.

Entsprechend des Credos «Man sieht nur, was man glaubt» war ein Sonderanlagenbauer davon überzeugt, weder Kundentakt noch Rhythmus in seine Produktion bringen zu können – jede Anlage sei schliesslich ein Unikat. Nach einer längeren Analyse konnten die Mitarbeiter vom Gegenteil überzeugt werden. Der Rhythmus war eben nicht gleich sichtbar. Erst wenn das technische Herzstück jeder Anlage offengelegt wird, versteht man den Takt. 

Abstraktion ist der Schlüssel

Im konkreten Fall entpuppte sich ein Mischer als gemeinsamer Nenner. Egal, ob es sich um eine Anlage zur Herstellung von Lacken, Babynahrung oder Joghurt handelte: Alle enthielten einen Mischer. Zwar bestellt kein Kunde einen Mischer, aber eine Anlage damit. Genauso kauft niemand einen Motor, sondern einen Porsche mit Sechszylinder-Antrieb. Mischer ist Mischer. So einfach war es nicht, doch nach einiger Beobachtung und mit einer gewissen Abstraktion war klar: Es gab fünf Grundtypen. Und schon offenbarte sich auch der Kundentakt: 4-4-2-2-2 war der Grundrhythmus, in dem die fünf Mischertypen bestellt wurden und auf den sich die Produktion ab sofort einstellen konnte – von der Sägerei, der Zerspanung, der Schweisserei, der Schleiferei und der Lackiererei bis schliesslich hin zur Baugruppenmontage.

Wir haben einen Rhythmus. Unsere gesamte Produktion läuft wie ein Schweizer Uhrwerk. So müsste es bleiben; das wäre schön. Aber im Gegensatz zur eidgenössischen Variante funktioniert die Lean Production eher wie eine Aufziehuhr: Der Takt kommt von aussen. Kundenwünsche ändern sich ständig. Deshalb muss ich auch die Rhythmen in der Produktion immer wieder infrage stellen und bei Bedarf anpassen.

Lean Management hat schon immer von aussen, den Bedingungen, den Märkten, den Kundentakten her gedacht. Das macht es noch einmal attraktiver in einer Zeit, in der sich Kundenwünsche und Märkte täglich ändern. Kunden wollen heute immer individuellere Produkte, bei immer weniger Wartezeiten. Unternehmen, die lean aufgestellt sind, können darüber nur müde lächeln. Für sie ist der Trend zur kundenindividuellen Produktion kein Problem.

Es geht um Wertschöpfung

Rhythmus ist nur eines von vielen Lean-Prinzipien. Mindestens genauso wichtig ist der Verzicht auf alles nicht Wertschöpfende. Neben «Respect for People», langfristigen Zielen und kontinuierlicher Verbesserung (Kaizen) bildet dieses Prinzip den innersten Kern der Lean-Philosophie. Verschwendung definiert im Lean-Verständnis nämlich alle Aktivitäten, die Ressourcen verbrauchen und trotzdem keinen Mehrwert für den Kunden schaffen.

«Verschwendung vermeiden» verlangt nach einer dauerhaften Unternehmensstrategie, die Wertschöpfung zu steigern – und gleichzeitig alles zu unterlassen, was dem entgegensteht. Bringt jemand etwa sein Auto zum Lackierer, ist er bereit, für das Lackieren zu zahlen, aber nicht für das unnötige Umsetzen des Wagens auf dem Hof. Was der Lackierer im Kleinen vormacht, ist auch im grossen Massstab keine Seltenheit: Schätzungen über nicht wertschöpfende Handlungen in einem Unternehmen schwanken zwischen 40 und 75 Prozent. Das ist genau die Verschwendung, die hier gemeint ist – und sie kann man unterbinden.

Theorie ersetzt keine Praxis

Zwar kann bei der Radtour von Kunden und Bezahlung von Wertschöpfung nicht die Rede sein, doch die Fragen bleiben die gleichen: Was ist das Ziel? Und was erschwert es ihm, das Ziel zu erreichen? Wo betreibt er unnützen Aufwand oder kann etwas weglassen? Da der Autor mit 29 Kilogramm Gepäck losgefahren war, sollte sein erstes Paket nicht das letzte sein, das er auf der Reise nach Hause schickte. Jedes Kilo zu viel bedeutet mehr Kraftaufwand beim Fahren und längere Einpackzeiten. 

In der Realität war es jedoch gar nicht so einfach, den ersten Schritt zu machen und sich von einigen Dingen zu trennen. Denn ihm stand das «Doch noch»-Denken im Weg: «Diese Klamotten könnte ich doch noch brauchen.» In Bielefeld war es schliesslich so weit: Die ersten 500 Gramm gingen zur Post.

Beim ersten Päckchen reichte es immerhin für T-Shirt und Hose. Nach vielen Kilometern und weiteren Paketen war Habighorst schon selbstbewusster und begann, die Dinge zu hinterfragen. Kurz vor Norwegen musste eine ganze Reihe von Ersatzteilen für sein Fahrrad dran glauben, darunter Bremsbeläge, Tretlager und Spezialwerkzeug. So etwas ist intrinsisches Lernen – eine Änderung der Haltung.

All das theoretische Wissen über Lean Management hatte der Autor bereits vor der Tour, und doch ersetzte es nicht das Lernen auf und neben dem Rad. Ihm fiel teilweise erst nach mehreren Wochen auf, wie unpraktisch manches war. Agiles Vorgehen war hier der Schlüssel zur Optimierung: Immer wieder hinterfragen, immer bereit sein zum Lernen und Kombinieren. So hätte Habighorst mit dem Verzicht auf überflüssige Anschaffungen einige Hundert Euro einsparen können, in Unternehmen sind es schnell Hunderttausende.

Fehlende Perspektive

Vor dieser Herausforderung stand ein Metall verarbeitendes Unternehmen. Der Betrieb liess mit absurden Lagerbeständen und Transportwegen grosse Teile seiner Effizienz buchstäblich auf der Strasse liegen. Bis ein Gehäuse fertig produziert war, wurde es durchschnittlich 33 Minuten über das Gelände kutschiert. Dass hier etwas Nutzloses geschah, war früher niemandem aufgefallen. Die Perspektive fehlte. Mithilfe einer Wertstromanalyse liessen sich alle Prozesse der Wertschöpfungskette übersichtlich darstellen. Ein neues Wertstromdesign verkürzte die Transportwege um fast zwei Drittel auf 500 Meter und reduzierte die Transportzeiten auf sieben Minuten. Das Unternehmen konnte sich so von einem Grossteil seiner gigantischen Lagerbestände lösen. Mit dieser Erfahrung liessen sich dann auch die Mitarbeiter auf die Optimierung ein und hinterfragten ihre lang gehegten Gewohnheiten. Wie auf der Fahrradtour kam es hier primär darauf an, umzudenken, zu lernen und zu handeln. Rhythmus und Verschwendung vermeiden sind nur zwei der vier Lean-Prinzipien, mit deren Hilfe sich Unternehmen vieler Probleme entledigen. Überfüllte Lager, Produktionsschwankungen und frustrierte Mitarbeiter lassen sich vermeiden – wenn die Prozesse unternehmensweit konsequent auf den Kunden zugeschnitten werden. Dazu braucht es die richtige Perspektive und den Mut, altgedienten Glaubenssätzen ade zu sagen.

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