Veränderungen sind für Unternehmen nichts Neues, sondern ein Teil ihres täglichen Geschäfts. Doch die Veränderungen, mit denen wir im Rahmen der digitalen Transformation rechnen müssen, übersteigen das alltägliche Ausmass an Verschiebungen. Was das heisst, wurde im ersten Teil der Beitragsserie gezeigt («KMU-Magazin», Ausgabe 1-2/2019). Dabei wurde die Digitalisierung auch als «vierte industrielle Revolution» bezeichnet. Doch wie können Unternehmen mit dieser Situation umgehen, vor allem, wenn es dabei letztlich um das Überleben einer Organisation gehen kann? Der zweite Teil der Beitragsserie zeigt einerseits auf, dass wir uns bereits mitten im Prozess der digitalen Veränderung befinden und andererseits, wie Ansatzpunkte für unternehmerisches Handeln aussehen können.
Die «Absorptionskompetenz»
Insgesamt stellen sich vor dem Hintergrund grundlegender Veränderungen der digitalen Revolution Fragen wie zum Beispiel: «Sind Unternehmen auf die Veränderungen, welche die digitale Transformation mit sich bringen wird, vorbereitet?», «Können wir uns denn solche grundlegenden Veränderungen überhaupt noch vorstellen?», «Wie viel (digitale) Veränderung müssen Unternehmen selbst vornehmen, um in der neuen, digitalen Welt weiterhin wettbewerbsfähig zu bleiben?», «Mit welcher Geschwindigkeit und in welchem Ausmass müssen sie sich dazu verändern?», «Und wie kann, soll, muss das aussehen?» Solche Fragen und vor allem die Antworten darauf erscheinen im unternehmerischen Alltag visionär. Oft bleibt kaum Zeit und Aufmerksamkeit, um sich vertieft mit diesen und weiteren Fragen auseinanderzusetzen. Dennoch ist dies auch für KMU notwendig, um eine längerfristige unternehmerische Zukunft zu sichern. Denn paradoxerweise brauchen Menschen bereits Vorwissen, um einen neuen Sachverhalt überhaupt zu erkennen und einschätzen zu können. Oder anders gesagt, je mehr wir bereits über ein (neues) Phänomen wissen, umso eher erkennen wir den Wert einer Information. Neue Wissensstücke fügen sich dann wie in einem Puzzle in ein sich entwickelndes Bild ein. Das ist einfacher, schneller und abschätzbarer, wenn bereits ein grosser Teil der Puzzlestücke zu einem Bild zusammengefügt wurden. Die Wissenschaft nennt diese Fähigkeit «Absorptionskompetenz» (Cohen & Levinthal, 1990). Die Fähigkeit, Neues einordnen zu können, ist immer dann besonders wichtig, wenn es um grundlegende Veränderungen oder um Innovationen geht. Auch wenn KMU also (noch) nicht selbst auf dem Gebiet der Digitalisierung aktiv sind, so lohnt es sich, Informationen einzuholen und diese kontinuierlich zu reflektieren. Dies kann über Spezialisten im Unternehmen geschehen oder aber über einen aktiven und offenen Austausch mit Externen.
Veränderungen auf drei Ebenen
Bereits heute lassen sich verschiedene Veränderungen als Folge des Einsatzes digitaler Technologien beobachten, die vieles, was wir bisher für selbstverständlich hielten, infrage stellen. Es geht um den Alltag von Individuen, um die organisationale Wertschöpfung und um die Wettbewerbslandschaft.
Die individuelle Ebene
Auf individueller Ebene sind viele digitale Instrumente und Hilfsmittel bereits so selbstverständlich in unseren Alltag integriert, dass wir sie nicht mehr als «neu» wahrnehmen. So lassen sich beispielsweise Verhaltensänderungen bei Individuen feststellen, welche erst durch digitale Hilfsmittel entstehen konnten. Dies verdeutlicht das Beispiel einer Hotelauswahl. Es ist noch nicht lange her, dass die Auswahl eines Hotels nach den Kriterien Preis, Erreichbarkeit, Ort etc. stattfand. Heute verändert ein neues Kriterium den Entscheidungsprozess, die sogenannte «Instagrammability» oder «Instagram-Fähigkeit» eines Hotels (z. B. o. V., 2018). Diese bezeichnet die Möglichkeit, mit dem Mobiltelefon Fotos in einem Hotel aufnehmen zu können, die dann auf den persönlichen Instagram-Account der Besucher gestellt werden. Hotels greifen diese Verhaltensveränderung auf, indem sie die Örtlichkeiten bewusst so gestalten, dass den Gästen ein attraktiver oder auffälliger Hintergrund für Fotos angeboten wird. Denn als Hotels profitieren sie von den (oft kostenlosen) Beiträgen der Besucher über soziale Medien als Marketinginstrument. Unternehmen sollten ein Bewusstsein für solche Veränderungen im wahrgenommenen Nutzen und Verhalten von Individuen entwickeln und sie verstehen lernen, um sie in strategische Entscheide einfliessen zu lassen. Indem Technologien individuelles Verhalten verändern, werden indirekt auch neue Anforderungen an Produkte und Services oder an die Funktionsweise von Unternehmen gestellt.
Die Ebene der organisationalen Wertschöpfung
Auf der Ebene der organisationalen Wertschöpfung hat sich die Situation für Unternehmen durch die Nutzung digitaler Technologien auch direkt verändert. Denn digitale Technologien bieten die Möglichkeit, die Wertschöpfung und die Logik des Wettbewerbs neu zu gestalten. Das heisst, es können einzelne Stufen in der Wertschöpfungskette wichtiger werden, neue hinzukommen oder bisherige entfallen. Dies zeigt sich am Beispiel digitaler Geschäftsmodelle und Unternehmen, wie beispielsweise Amazon als digitales Handelsunternehmen. Die digitale Lösung über eine Website und Plattform ersetzt beispielsweise den (Bücher-)Detailhandel, es braucht keinen Verkaufsraum und keine Buchhändler mehr. Stattdessen werden Logistik und Lager zu zentralen Stufen in der Wertschöpfung, die auch neue Lösungen ermöglichen. Dazu gehören im Bereich der Logistik der mögliche Einsatz von Drohnen statt herkömmlicher Postservices oder die bereits eingesetzten «Amazon Go»-Läden, welche auf eine Kasse vollständig verzichten. Sensoren und eine App ermöglichen so den bargeldlosen Einkauf ohne zeitaufwändiges Anstehen und an 7 Tagen und während 24 Stunden. So werden der Einkaufsprozess und die Wertschöpfungskette stark vereinfacht und zeitlich verkürzt. Das Konzept wird in der Schweiz bereits durch Valora mit der «Avec Box» aufgegriffen (siehe Amazon, 2018; Valora, 2019).