Recht

Die Bilateralen

Das geplante Abkommen ­zwischen EU und der Schweiz

Ein neues Abkommen mit der EU soll viele Bereiche betreffen, neben der Freizügigkeit auch Forschung und Innovation, Landwirtschaft, Gesundheitspolitik. Auch ein neues Stromabkommen ist geplant. Der Beitrag zeigt einen Überblick über die geplanten Vereinbarungen.
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In einem sogenannten Common Understanding, zu Deutsch «Gemeinsame Verständigung,» teilen der Bundesrat und die Europäische Kommission mit, dass ein erfolgreicher Abschluss der Verhandlungen über ein neues Abkommen in Reichweite ist. Die Europäische Kommission und der Bundesrat teilen die Auffassung, dass über ein Gesamtpaket verhandelt werden sollte.

Ein breiter Paketansatz

Dabei beziehen sich der Bundesrat und die Europäische Kommission auf die exploratorischen Gespräche zwischen Vertretern der Schweiz und der EU zur Stabilisierung und Weiterentwicklung ihrer Beziehungen, die seit März 2022 stattfanden. In der Übersicht hat der Bundesrat folgende Ziele formuliert: «Das übergeordnete Ziel des Bundesrates ist, den bilateralen Weg langfristig zu stabilisieren und weiterzuentwickeln. Am 25. Februar 2022 legte der Bundesrat seine Stossrichtung fest: Er entschied sich für einen breiten Paketansatz, um den hindernisfreien Marktzugang in den bestehenden sektoriellen Binnenmarktabkommen zu erreichen und neue sektorielle Abkommen in den Bereichen Strom, Lebensmittelsicherheit und Gesundheit abzuschliessen. Anders als beim institutionellen Abkommen sollen die institutionellen Elemente sektoriell, das heisst direkt in den einzelnen Binnenmarktabkommen verankert werden.»

Die Freizügigkeit

Das Abkommen zwischen der Schweiz und der EU vom 21. Juni 1999 über die Freizügigkeit (FZA) soll so angepasst werden, dass die dynamische Übernahme bestehender und künftiger EU-Rechtsakte im Bereich der Freizügigkeit durch die Schweiz vorgesehen ist. Anpassungen des FZA sollten nicht zu einer Verminderung der Rechte führen, die EU-Bürger sowie Schweizer Staatsangehörige derzeit aufgrund des FZA haben. Unter anderem wird Folgendes vereinbart:

Der Bundesrat und die EU bekräftigen das gemeinsame Ziel, den Missbrauch der durch die Richtlinie 2004/38/EG über das Recht der Unionsbürger und ihrer Familienangehörigen, sich im Hoheitsgebiet der Mitgliedstaaten frei zu bewegen und aufzuhalten, zu verhindern und dagegen vorzugehen, insbesondere in Bezug auf den Zugang zur Sozialhilfe, zum Beispiel gegen Scheinehen. Betreffend Beschränkungen des Einreise- und Aufenthaltsrechts von Staatsangehörigen der jeweils anderen Partei aus Gründen der öffentlichen Ordnung sollen die Verpflichtungen der Schweiz und der EU-Mitgliedstaaten aus dem FZA beibehalten werden.

Die nachfolgend genannten Weiterentwicklungen, die durch Kapitel VI der Richtlinie 2004/38/EG eingeführt wurden, welche über diese Verpflichtungen hinausgehen, namentlich der in Artikel 28 Absätze 2 und 3 vorgesehene verstärkte Schutz vor Ausweisung, sowie die Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zu diesen Bestimmungen sollten nicht anwendbar sein.

Darüber hinaus können die Schweiz und die EU-Mitgliedstaaten bei Ausweisungen dafür sorgen, dass die Ausweisungen gemäss den Anforderungen des FZA durchgeführt werden. Die Schweiz erklärt einseitig, dass sie mit dieser Ausnahme bei der derzeitigen Sachlage die Richtlinie 2004/38/EG ohne Änderung der Bundesverfassung der Schweizerischen Eidgenossenschaft übernehmen könnte.

Die Schweiz und die EU-Mitgliedstaaten können beschliessen, das Recht auf Daueraufenthalt Richtlinie 2004/38/EG nur EU-Bürgern und Schweizer Staatsangehörigen zu gewähren, die sich insgesamt fünf Jahre lang rechtmässig als Arbeitnehmende oder Selbstständige im Aufnahmestaat aufgehalten haben, einschliesslich derjenigen, die diesen Status gemäss der Richtlinie behalten, sowie den Familienangehörigen dieser Personen. Sofern die zu berücksichtigenden Zeiträume Teil einer einzigen Zeitspanne mit rechtmässigem Aufenthalt im Aufnahmestaat sind, sollten sie nicht durchgehend sein.

Die Schweiz sollte für selbstständige Dienstleistungserbringer oder für Dienstleistungserbringer, die Angestellte in ihr Hoheitsgebiet entsenden, eine Voranmeldefrist von höchstens vier Arbeitstagen anwenden können, die für die Durchführung von Kontrollen vor Ort in bestimmten Branchen erforderlich ist.

Wichtig: Die Europäische Kommission und die Schweiz sollten auch das Prinzip «gleicher Lohn für gleiche Arbeit am gleichen Ort» und das duale Vollzugssystem der Schweiz beachten.

Die Europäische Kommission und die Schweiz teilen die Auffassung, dass EU-Bürger sowie Schweizer Staatsangehörige nicht zu einer unangemessenen Belastung für die Sozialhilfesysteme der Schweiz beziehungsweise der EU-Mitgliedstaaten werden sollten.

Energieabkommen

Um Versorgungssicherheit zu gewährleisten und den Übergang zu einem Netto-Null-Energiesystem in Europa bis 2050 zu unterstützen, sollte die Schweiz Teil des EU-Strombinnenmarkts sein. Beinhalten sollte dies auch die Beteiligung an den EU-Handelsplattformen in allen Zeitbereichen sowie an anderen Gremien und Prozessen, die für die regulatorische Koordination, die Versorgungssicherheit und die Netzstabilität relevant sind, soweit dies im vereinbarten Gouvernanz-Rahmen möglich ist.

Soweit sie mit dem EU-Recht vereinbar sind, sollte die Schweiz verhältnismässige und nicht wettbewerbsverzerrende nationale Massnahmen, einschliesslich nationaler Produktionsreserven, ergreifen, um jederzeit die Versorgungssicherheit zu gewährleisten. Das Stromabkommen sollte nationale Verbraucherschutzmassnahmen zulassen, die für Haushalte und Unternehmen unterhalb einer bestimmten Verbrauchsschwelle das Recht vorsehen, die Leistungen eines Grundversorgers in Anspruch zu nehmen.

Forschung und Innovation

Die Europäische Kommission und der Bundesrat teilen das Ziel, ihre langjährige und erfolgreiche Zusammenarbeit zu festigen und zu vertiefen, insbesondere in den Bereichen Forschung und Innovation, allgemeine und berufliche Bildung, Jugend, Sport und Kultur sowie in weiteren Bereichen von gemeinsamem Interesse, um eine systematischere Teilnahme der Schweiz an Unionsprogrammen zu ermöglichen, zum Beispiel Digital Europe und Erasmus.

Parallel dazu sollten die Verhandlungen über die Umsetzung des zwischen der EU und der Schweiz bestehenden GNSS-Abkommens (Galileo und Egnos) wieder aufgenommen und Gespräche über eine Beteiligung der Schweiz an der Copernicus-Komponente des EU-Weltraumprogramms lanciert werden.

Mit Blick auf die Assoziierung an Horizon Europe und an das Forschungs- und Ausbildungsprogramm Euratom wäre die  Europäische Kommission bereit, für Schweizer Gesuchstellende eine Übergangslösung anzuwenden, in der Annahme, dass der Assoziierungsprozess zügig abgeschlossen wird. Angesichts der Wichtigkeit der Ausschreibungen des Europäischen Forschungsrats, die im Laufe des Jahres 2024 lanciert werden.

Landwirtschaft und Gesundheit

Weitere Abkommen sind in folgenden Bereichen geplant:

Die Europäische Kommission und die Schweiz beabsichtigen, den Geltungsbereich des Abkommens über den Handel mit landwirtschaftlichen Erzeugnissen auf die gesamte Lebensmittelkette auszuweiten, und so einen gemeinsamen Lebensmittelsicherheitsraum EU-Schweiz zu schaffen. Im Rahmen der Erweiterung sollte die Schweiz EU-Recht dynamisch übernehmen und gleichzeitig die Möglichkeit haben, gewisse Ausnahmen auszuhandeln.

Ein bilaterales Gesundheitsabkommen sieht vor, eine Beteiligung der Schweiz an allen relevanten EU-Mechanismen und -Netzwerken zu ermöglichen, insbesondere an den Gesundheitssicherheitsmechanismen, am European Centre for Disease Prevention and Control (ECDC) und am mehrjährigen Gesundheitsprogramm der EU, in Einklang mit den in den relevanten EU-Rechtsakten enthaltenen Rechten und Pflichten, einschliesslich eines finanziellen Beitrags.

Zahlungen an die EU

Die Europäische Kommission und der Bundesrat teilen die Auffassung, dass die Grundlage für einen regelmässigen, gemeinsam vereinbarten und fairen finanziellen Beitrag der Schweiz zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten zwischen ihren Regionen geschaffen werden sollte.

Dieser neue rechtsverbindliche Mechanismus sollte für den nächsten mehrjährigen Finanzrahmen der EU bereit sein. Die Kommission und der Bundesrat teilen die Auffassung, dass der erste Schweizer Beitrag zur Verringerung der wirtschaftlichen und sozialen Ungleichheiten im Rahmen des ständigen Mechanismus eine zusätzliche finanzielle Verpflichtung für den Zeitraum zwischen Ende 2024 und dem Inkrafttreten des ständigen Mechanismus beinhalten sollte. Vorgesehen ist, dass die Schweiz sich an den relevanten künftigen Kosten für Entwicklung, Betrieb und Unterhalt aller EU-Informationssysteme, zu denen sie Zugang hat, beteiligt.

Dynamische Rechtsübernahme

Alle Binnenmarktabkommen und die EU-Rechtsakte, auf die in diesen Abkommen Bezug genommen wird, sollen einheitlich und gemäss den Grundsätzen des Völkerrechts ausgelegt und angewendet werden. Insbesondere sollten die Bestimmungen der in dieser Ziffer genannten Abkommen und EU-Rechtsakte, soweit ihre Anwendung EU-Rechtsbegriffe impliziert, im Einklang mit der vor und nach der Unterzeichnung dieser Abkommen ergangenen Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union ausgelegt werden.

Eine Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme ist vorgesehen, sofern die bereits bestehenden Ausnahmen gewahrt bleiben und für die Ausnahmen, Prinzipien und Absicherungen eine Lösung gefunden wird. Im Laufe der Verhandlungen sollten die Europäische Kommission und die Schweiz wo nötig Rechtsakte besprechen, die zwischen dem Abschluss der exploratorischen Gespräche und dem Abschluss der Verhandlungen verabschiedet werden, sofern nicht die in den bestehenden Binnenmarktabkommen vorgesehenen Anpassungsmechanismen zur Anwendung gelangen.

Damit die Schweiz ihre Standpunkte einbringen kann, sollte sie frühzeitig und so umfassend wie möglich in den Entscheidungsfindungsprozess über neue EU-Rechtsakte in den von den betroffenen bilateralen Abkommen abgedeckten Bereichen einbezogen werden. Alle relevanten EU-Rechtsakte sollten so rasch als möglich nach ihrer Verabschiedung in die Binnenmarktabkommen aufgenommen werden, wobei die verfassungsrechtlichen Verfahren der Schweiz (einschliesslich Referendum) gebührend zu berücksichtigen sind.

Wenn das betreffende Abkommen dies vorsieht, sollte die Gleichwertigkeit der Rechtsvorschriften der Schweiz und der EU festgestellt werden. Bestimmungen oder Rechtsakte der EU, die in den Anwendungsbereich einer Ausnahme von der Verpflichtung zur dynamischen Rechtsübernahme fallen, unterliegen dieser Verpflichtung nicht.

Im Fall von Schwierigkeiten

Alle bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen sollen als kohärentes Ganzes betrachtet werden, das ein Gleichgewicht der Rechte und Pflichten zwischen der EU und der Schweiz gewährleistet.

Die institutionellen Lösungen, die als Ergebnis dieser neuen Verhandlungen vereinbart werden, sollten für alle bestehenden und künftigen Binnenmarktabkommen identisch sein, vorbehaltlich technisch begründeter Anpassungen. Diese institutionellen Lösungen sollten den Anwendungsbereich, die Ziele und die Schlussbestimmungen betreffend die Beendigung dieser Abkommen nicht ändern.

Im Falle von Schwierigkeiten bei der Auslegung oder Anwendung der Binnenmarktabkommen sollten Konsultationen in den jeweiligen sektoriellen Ausschüssen stattfinden und eine für beide Seiten annehmbare Lösung erarbeitet werden. Gelingt es einem sektoriellen Ausschuss nicht, eine Lösung für eine solche Schwierigkeit zu finden, sollten die Parteien die Möglichkeit haben, ein Schiedsgericht, in dem beide Parteien vertreten sind, zur Beilegung der Streitigkeit anzurufen. Gibt es im Streitfall eine Frage zur Auslegung nach EU-Recht, so sollte das Schiedsgericht diese Frage dem Gerichtshof der Europäischen Union zur Entscheidung vorlegen. Letztere wäre für das Schiedsgericht bindend.

Stellt ein Schiedsgericht fest, dass eine Partei gegen eines dieser Abkommen verstossen hat, und ist die andere Partei der Ansicht, dass der Entscheid des Schiedsgerichts von der vertragsbrüchigen Partei nicht befolgt wurde, sollte diese andere Partei die Möglichkeit haben, im betroffenen Abkommen oder in jedem anderen Binnenmarktabkommen eine Auswahl von verhältnismässigen Ausgleichsmassnahmen zu ergreifen. Die von den Ausgleichsmassnahmen betroffene Partei sollte die Möglichkeit haben, die Verhältnismässigkeit dieser Massnahmen durch das Schiedsbericht beurteilen zu lassen.

Die Europäische Kommission und der Bundesrat teilen die Auffassung, dass nach Abschluss des Gesamtpakets regelmässig ein hochrangiger Dialog geführt werden sollte mit dem Ziel, eine allgemeine Bestandsaufnahme der in diesem Dokument dargelegten bilateralen Beziehungen vorzunehmen. Mit Blick auf diesen hochrangigen Dialog soll regelmässig ein koordinierter Überblick über die Beziehungen zwischen der EU und der Schweiz sowie über die Arbeit der sektoriellen Ausschüsse geschaffen werden.

Stellungnahmen

Die Kommission für Wirtschaft und Abgaben des Nationalrats (WAK-N) sowie die Aussenpolitische Kommission von National- und Ständerat (APK-N und APK-S) haben schon über das geplante Abkommen diskutiert und dieses im Prinzip akzeptiert.

Es werden aber doch Korrekturen gefordert, beispielsweise:

  • Klares Verfahren bei der Mitwirkung an der EU-Gesetzgebung («decision shaping») unter Einbezug des Parlaments.
  • Klare Beschränkung der Kompetenz des EuGH. Diese sollte nur falls notwendig auf Begehren des Schiedsgerichts indirekt zur Auslegung unionsrechtlicher Begriffe tätig werden.
  • Konzentration des Stromabkommens auf die Zusammenarbeit im Bereich Netzstabilität, den Stromhandel und die Versorgungssicherheit; Absicherung der Wahlfreiheit der Haushalte und KMU zum Verbleib in der geschützten Grundversorgung.
  • Ergänzende Verhandlungen zum Stromabkommen.
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