Strategie & Management

Führungsmodelle

Mit mehr Eigenverantwortung zu mehr Dynamik

Alle Mitarbeiter reden gleichberechtigt mit. Entscheidungen werden im Konsent getroffen, alle Potenziale genutzt. Das und mehr verspricht das Soziokratie-Modell. Doch was steckt dahinter, und was bringt es Unternehmen wirklich?
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Mittwochmorgen, Treffen im Steuerungskreis eines mittelständischen Unternehmens der Konsumgüterindustrie: Heute steht die Entscheidung an, ob und in welchem Umfang die Neueinführung eines Produkts erfolgen soll. In den Wochen zuvor sind in den täglichen kurzen Morgen-Meetings und in den Arbeits-Meetings, die einmal pro Woche durchgeführt werden, Problemlösungen diskutiert, Argumente ausgetauscht, bestätigt und verworfen, mögliche Einwände besprochen worden. Das Besondere dabei: Die Meetings finden unter soziokratischen Gesichtspunkten statt.

Gleichberechtigung im Kreis

Soziokratie ist ein Organisations-, Management- und Führungsansatz, um zu mehr Gleichberechtigung, Transparenz und Partnerschaftlichkeit in den unternehmerischen Prozessen zu gelangen. Der Begriff setzt sich zusammen aus dem lateinischen «socius», dem Gefährten, und dem griechischen «kratein», dem Regieren. Er findet sich zum ersten Mal beim französischen Philosophen Auguste Comte, der auch den Begriff der Soziologie prägte. Im Fokus steht das Prinzip der Gleichwertigkeit aller Beteiligten. Dabei wird die traditionelle Linienstruktur von einer Kreisstruktur abgelöst, in der die Kreismitglieder auf Augenhöhe agieren.

Ziel ist es, in eigenverantwortlich agierenden Teams unter der Leitung eines Moderators dem besseren Argument Gehör zu verschaffen. Der Moderator fungiert nicht aus einer Machtposition heraus, er muss keine Führungskraft sein. Es liegt in der Verantwortung seiner Moderation, dass alle Mitglieder angehört und deren kreative Gestaltungsenergie für den Entwicklungsprozess genutzt werden können. Ausserdem versorgt er alle Beteiligten mit den notwendigen Fakten, alle sollen über denselben Informationsstand verfügen. Damit die Argumente eines Kreismitgliedes mehr Gewicht erhalten, ist bei der Besetzung des Kreises die Expertise entscheidend. Denn, wenn ein Mitglied einen Vorschlag vorträgt, der auf Kompetenz und Erfahrung gründet, wird ihm automatisch mehr Glaubwürdigkeit zugestanden. Wichtig ist mithin nicht, wie viele Sterne jemand auf der Schulter trägt, sondern seine Expertise.

Schauen wir kurz zu dem Steuerungskreis jenes mittelständischen Unternehmens der Konsumgüterindustrie: Jeder Einwandträger ist verpflichtet, seine Argumente verantwortlich zu begründen und einem Realitätscheck zu unterziehen. Er muss dabei immer das «grosse Ganze», die Interessen, die Vision und Mission des Unternehmens vor Augen haben und diese, um in unserem Beispiel zu bleiben, mit der Produktneueinführung verknüpfen.

Das heisst: Soziokratie ist kein Selbsterfahrungstrip oder Sozial-Klimbim, sie dient dazu, problemlösungsorientierte Dialoge zu inhaltlich legitimierten Sachverhalten zu befördern und die Selbstverantwortung und Selbstorganisation von Menschen, Teams und Unternehmen zu ermöglichen. Es genügt daher nicht, zu einem Argument einfach nur «Nein» zu sagen. Der Einwand muss vielmehr argumentativ wohlbegründet sein.

In mehreren Reflexionsschleifen legt der Kreis jedes Gegenargument unter die kritische Lupe und überprüft ihn auf seine Stichhaltigkeit: Enthält der Einwand Inhalte, die vom Kreis berücksichtigt werden sollten, weil sie letztendlich zu einer Verbesserung  führen? Zudem kann jedes Kreismitglied verpflichtet werden, bei einem Einwand oder Nein grundsätzlich einen substanziellen Gegenvorschlag einzubringen. Der Vorteil: Der Zwang zum konstruktiven Nein erzieht dazu, nur begründbare Einwände zu formulieren.

Reifes Verhalten notwendig

Die soziokratische Diskussions- und Entscheidungskultur erfordert von allen Beteiligten einen gewissen Reifegrad und den Willen und die Kompetenz, Verantwortung zu übernehmen. Sie setzt also etwas voraus, was oft erst im soziokratischen Umsetzungsprozess erworben und aufgebaut werden kann. Darum müssen soziokratische Organisations- und Führungsprinzipien langsam, behutsam und bedachtsam eingeführt, eingeübt und trainiert werden.

Die Einführung sollte zunächst auf ein Pilotteam beschränkt bleiben, auch um zu experimentieren und aus Erfahrungen und Fehlern zu lernen.Letztendlich müssen sie im Zeichen der Visionsverwirklichung der unternehmerischen Zielsetzungen stehen und dürfen diese nicht infrage stellen. Zumindest gilt (zurzeit noch), dass sich die Soziokratie eher in Start-ups mit flachen Hierarchien verwirklichen lässt als in einem Unternehmen mit einer patriarchalisch-hierarchischen Struktur.

Aber auch in den Start-ups müssen Entscheidungen getroffen werden. Was aber, wenn sich im Konsumgüterunternehmen ein Kreismitglied mit begründeten Argumenten der Meinung der anderen nicht anschliesst?

Im Konsent entscheiden

Es gilt: Soziokratische Entscheidungen werden nach dem Konsentgrundsatz getroffen, also erst dann, wenn keiner der Beteiligten einen schwerwiegenden Einwand mehr erhebt. Dabei kann nur der Einwandträger selbst den Einwand zurückziehen. Klar ist: Dieses Prinzip droht Entscheidungsprozesse zu blockieren – das darf nicht passieren.

In diesem Zusammenhang kommt die soziokratische Kreisstruktur zum Tragen: Denn stellt es sich als unmöglich heraus, in einem Kreis oder Team eine Entscheidung herbeizuführen, wird diese auf die nächsthöhere Kreisebene verlagert. Dies erinnert an das Subsidiaritätsprinzip, nach dem zunächst einmal auf einer Entscheidungsebene zum Beispiel autonom ein Konsens oder Kompromiss herbeigeführt werden soll. Erst wenn dies nicht gelingt, greift die nächsthöhere Instanz ein.

Eine Entscheidungsfindung im nächsthöheren Kreis ist möglich, weil es in jedem Kreis zumindest einen Mitarbeiter als Bindeglied gibt, der auch dem darüber liegenden Team angehört und die Kreismitglieder, die nun die Entscheidung zu fällen haben, umfassend und effektiv informieren kann.

Kein Ende der Hierarchien

Es ist vor allem jene Kreisstruktur, die es einerseits erlaubt, dass jede begründete Meinung nach dem Konsentprinzip demokratisch gehört und berücksichtigt werden kann, ohne dass es andererseits zu einer Blockadehaltung kommt. Und dies ist gut und richtig so, weil auch in «modernen» agilen Unternehmen hierarchisch legitimierte Entscheidungen getroffen werden müssen. Wenn das Haus brennt, kann nicht diskutiert werden, ob die Feuerwehr nun ausrücken soll und die Bewohner evakuiert werden müssen.

Das machtfreie und hierarchielose Unternehmen bleibt also ein Traumgespinst. Wer aber die gesamte Kreativität und Innovationskraft der Mitarbeitenden für die Weiterentwicklung des Unternehmens optimieren und nutzen möchte, sollte ihnen Vertrauen schenken, den Einsatz von Kontrollmechanismen minimieren und sie wertschätzend führen. Das soziokratische Modell bietet dafür gute Voraussetzungen.

Die Verlagerung von Macht in Mitarbeiterzirkel mag im Einzelfall zu zeitlichen Verzögerungen führen, weil jedes begründete Argument bedacht sein will. Auf der anderen Seite entsteht so eine neue Dynamik: Wenn jedes Argument an Gewicht und Würde gewinnt, hört man sich besser zu, wägt man die Äusserungen der anderen Teammitglieder genau ab und achtet auf die saubere Beweis­führung der eigenen Ansichten.

Diese Diskussionskultur führt zu einer Inten­sivierung der Kommunikation und In­teraktion, eine ausgesprochen argumentzentrierte Feedbackkultur kann sich etablieren, weil jeder die Äusserungen der anderen Kreismitglieder ernsthaft prüfen will und muss.

Eigene Erfahrungen sammeln

All dies wird durch unsere bisherigen Erfahrungen bei der Einführung der soziokratischen Strukturen in verschiedenen Firmen belegt. Allerdings gilt hierbei: Jedes Unternehmen ist ein einzigartiger Organismus, und darum müssen stets die individuellen Rahmenbedingungen Berücksichtigung finden und die soziokratischen Prinzipien an die unternehmerischen Gegebenheiten angepasst werden. Eine Blaupause oder Anweisung, wie dies geschehen muss, gibt es nicht, zumal das Organisationsmodell zwar nicht vollkommen neu, aber in der unternehmerischen Realität erst selten umgesetzt worden ist.

Zudem erfordert es von den beteiligten Führungskräften und Mitarbeitern ein Umdenken: Die Mitarbeiter müssen lernen, mit der Verantwortung umzugehen, die Führungskräfte Macht abzugeben und in flacheren Hierarchien zu denken sowie zu agieren. Die Geschäftsleitung schliesslich sollte als Vorbild vorangehen, die soziokratischen Prinzipien vorleben und die Einführung unterstützend begleiten. Hilfreich ist es, wenn sich die gesamte Organisation durch einen Leitstern auf die Erreichung eines gemeinsamen Ziels fokussieren kann. Denn dann sind in den moderierten Meetings – wie es auch in jenem mittelständischen Unternehmen der Konsumgüterindustrie der Fall ist – immer öfter Sätze zu hören wie: «Gut, im Sinn unserer gemeinsamen Vision kann ich mit der Entscheidung leben, ich habe keine schwerwiegenden Einwände mehr!»

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