In unserer vernetzten Arbeitswelt werden die Aufgaben in den Unternehmen komplexer. Sie werden zudem verstärkt von bereichsübergreifenden Teams erbracht. Deshalb müssen die Führungskräfte ihre Mitarbeiter zunehmend an der langen Leine führen. Und die Mitarbeiter? Sie müssen mehr Selbstverantwortung zeigen.
Drei Wirkungsfaktoren
Diese Erkenntnis ist nicht neu. Deshalb zielen letztlich alle Managementsysteme, die in den letzten Jahrzehnten entwickelt wurden beziehungsweise in Mode waren, darauf ab, mehr Handlungs- und Entscheidungsbefugnisse auf die operative Ebene zu verlagern – unabhängig davon, ob sie Lean Management, TQM oder OKR heissen. Auch beim Thema Agilität spielt dieses Bestreben eine zentrale Rolle. Unbeantwortet blieben hierbei jedoch oft folgende Fragen:
- Welche psychologischen Dispositionen und Muster führen dazu, dass Menschen selbstverantwortlich handeln? Und:
- Wie lassen sich die individuellen Unterschiede bei der Bereitschaft, (Selbst-)Verantwortung zu übernehmen, erklären?
Wirkfaktor 1: Interne oder externe Kontrollüberzeugung?
Eine erste Antwort auf diese Frage lieferte der US-amerikanische Psychologe Julian B. Rotter, in seiner 1966 erschienenen Monografie zum Thema «Locus of Control». In ihr unterscheidet er zwischen Menschen mit einer internen und einer externen Kontrollüberzeugung.
Menschen mit einer internen Kontrollüberzeugung glauben, dass sie durch ihr Denken und Handeln ihr Leben beeinflussen können. Menschen mit einer externen Kontrollüberzeugung hingegen sind überzeugt, ihr Leben werde primär von Umständen, die ausserhalb ihres Einflussbereichs liegen, bestimmt. «Das bringt nichts» und «Da kann man nichts machen» sind typische Formulierungen von Menschen mit einer externen Kontrollüberzeugung. «Das muss irgendwie gehen» und «Lass es uns mal probieren» hingegen sind typische Sätze von Menschen mit einer internen Kontrollüberzeugung.
Sätze, aus denen eine externe Kontrollüberzeugung spricht, hört man in unserem Kulturkreis oft. Schon kleinen Kindern wird beigebracht, dass sie gehorsam beziehungsweise folgsam sein und möglichst keine Fehler machen sollten. Deshalb entwickeln viele Menschen früh Denk- und Verhaltensmuster, die ihnen später eine verantwortungsvolle Haltung erschweren. Dabei brauchen wir in unserer von rascher Veränderung geprägten (Arbeits-)Welt zunehmend Gestalter, die trotz der damit verbundenen Risiken bereit sind, für sich und andere Verantwortung zu übernehmen – also Menschen mit einer internen Kontrollüberzeugung.
Interne Kontrollüberzeugung benötigt Gelassenheit: Das gilt insbesondere für die Führungskräfte in den Unternehmen. Sie dürfen aufgrund ihrer internen Kontrollüberzeugung aber nicht in einen Kontrollwahn verfallen. Das heisst, sie müssen damit leben können, dass es immer wieder «Schicksalsschläge» geben kann, die ihre Planungen und Vorhaben über den Haufen werfen. Das hat uns gerade das Coronavirus gezeigt.
In unserer Kultur gibt es viele Texte und Sprüche, die das Spannungsfeld zwischen interner Kontrollüberzeugung und – nennen wir es – «Schicksal» thematisieren. Hierzu zählt das Gebet: «Gott, gib mir die Gelassenheit, Dinge hinzunehmen, die ich nicht ändern kann, den Mut, Dinge zu ändern, die ich ändern kann, und die Weisheit, das eine vom anderen zu unterscheiden.» Als sein Urheber gilt der Theologe Reinhold Niebuhr (1892–1971). Neueren Datums ist folgender Spruch: «Relax. Nothing is under control.» Er wird dem Autor Adi Da zugeschrieben. Ihn konnte man nach dem Ausbruch der Covid-19-Pandemie oft in den Social Media lesen. Er besagt: Es ist eine Wahnvorstellung, zu glauben, wir könnten in unserem Leben alles planen, steuern und kontrollieren.
Auch selbstverantwortlich handelnde Menschen sollten folglich damit rechnen, dass sie aufgrund unvorhergesehener Ereignisse entweder die Prioritäten neu setzen oder sich sogar eingestehen müssen: «Darauf habe ich keinen Einfluss» oder «Das überfordert mich». Ohne dieses Bewusstsein schlägt eine interne Kontrollüberzeugung zuweilen in einen Kontrollwahn um, der letztlich auf Allmachtsfantasien basiert.