Strategie & Management

Business Reengineering

Eine Radikalkur für die Organisationsentwicklung

Produktionsunternehmen versuchen Rentabilitäts- und Kostenprobleme oft durch den Einsatz neuer Technologien zu lösen. Eher selten stellen sie jedoch ihre Organisationsstruk­turen infrage. Dies ist aber auch nötig, um Quantensprünge bei solchen Kennzahlen wie Ressourcenverbrauch, Durchlauf- und Lieferzeiten zu erzielen.
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In der produzierenden Industrie vollzieht sich ein radikaler Wandel. Aufgrund des sich verschärfenden Wettbewerbs, (inter-)nationaler Überkapazitäten, steigender Lohn- und Energiekosten und so ­weiter ist allseits das Bemühen spürbar, unter anderem mithilfe der Digitaltechnik die Unternehmensstrukturen schlank und kostengünstig und somit konkurrenzfähig zu gestalten. 

Viele Managementkonzepte versprechen hierbei Hilfe. Als Beispiele seien Lean ­Management/Production, Total Quality Management und Kaizen genannt. Ein weiterer Ansatz, der um die Jahrtau­sendwende boomte, ist das sogenannte Business Reengineering. Dieses Konzept wird auch heute noch bei vielen Restrukturierungsprojekten genutzt, weil es das Bemühen um eine intelligentere Gestaltung der betrieblichen Abläufe mit dem Anspruch einer kundenorientierten Produktion verbindet.

Ganzheitlich betrachten

Die starke Resonanz, die dieses Konzept ­erfährt, erklärt sich auch daraus, dass viele Rationalisierungsprojekte und Kosten­reduzierungsmassnahmen in der Vergangenheit in eine Sackgasse führten. Mit ihnen wurden zwar die Personalkosten so stark gesenkt, dass sie heute oft weniger als zehn Prozent der Gesamtkosten der industriellen Fertigung ausmachen. Dabei geriet jedoch häufig der Mensch als Erfolgsfaktor betrieblichen Handelns aus dem Blickfeld.

Das Business Reengineering verfolgt bei der Reorganisation betrieblicher Abläufe einen anderen Ansatz. Es knüpft an die Erfolgskonzepte der zurückliegenden Jahrzehnte an, die mit dem Begriff einer schlanken Produktion verbunden sind und auch den Menschen als wichtigen Produktivitätsfaktor rehabilitierten. 

Das Business Reengineering will jedoch mehr. Es verspricht ein Wachstum in nicht mehr für möglich erachteten Grös­senordnungen; ausserdem eine Steigerung der betrieblichen Prosperität trotz einer sich verschärfenden Konkurrenz. Den Ansatz hierfür sieht es in einer ganzheitlichen Betrachtung der Unternehmensprozesse, die die drei Dimensionen Prozess-, Mitarbeiter- und Kundenorientierung miteinander verbindet.

Das unterscheidet das Business Reengineering von früheren Optimierungsansätzen. Diese strebten oft nur in einer der drei genannten Dimensionen Verbesserungen an. Das Business Reengineering hingegen will alle erfolgsrelevanten Handlungsfelder und Abläufe eines ­Unternehmens neu ordnen. Ausserdem strebt es eine radikale Verschlankung seiner zentralen Geschäftsprozesse mit dem Ziel an, 

  • den Kundennutzen zu steigern und
  • die Organisation so weiterzuentwickeln, dass langfristige Wettbewerbsvorteile entstehen.

Um dies zu erreichen, stellt das Business Reengineering die bisherige Unternehmenspraxis von Grund auf infrage. Es durchleuchtet sie kritisch und ordnet sie entlang der betrieblichen Wertschöpfungskette neu. 

Problemursachen ermitteln

Eine solche Radikalkur setzt die Bereitschaft zu einem fundamentalen Überdenken und Umformen aller Geschäftsprozesse voraus. Denn nur dann lässt sich das hochgesteckte Ziel, Leistungsdaten wie Kosten, Qualität, Service und Geschwindigkeit drastisch zu verbessern, realisieren. Eine nachhaltige Wirkung entfalten diese Veränderungen zudem nur, wenn zugleich der Produktionsfaktor Mensch wieder ins Zentrum der strategischen Überlegungen rückt. Bei vielen Produktionsunternehmen ist dies noch nicht der Fall. Traditionell reagieren sie auf Rentabilitäts- und Kostenprobleme mit

  • einem Mengenwachstum, 
  • einer Steigerung des Veredelungsgrades,
  • dem Einsatz verbesserter Technologien, Verfahren und Rezepturen sowie
  • einer Optimierung des Rohstoffein­satzes.

Insgesamt herrscht eine Konzentration auf technologische Verbesserungen vor. Zwar werden vereinzelt unbefriedigende Abläufe durch effizientere ersetzt und ausgeklügeltere Budgetierungs- und Controllingverfahren implementiert, nur selten wird aber die Frage nach den Ursachen der Probleme in der betrieblichen Organisation gestellt. Vielmehr wird nach Verbesserungspotenzialen unter Beibehaltung der erstarrten Organisationsstrukturen gesucht.

Deshalb widersprechen aktuell die Organisationsstrukturen vieler Produktionsunternehmen noch weithin den Merk­malen einer modernen Unternehmensführung und -gestaltung. So standen zum Beispiel bis vor kurzem in vielen Betrieben die meist tayloristischen Arbeitsstrukturen und -abläufe noch nicht zur Disposition. Ebenso wenig wurden Ansätze verfolgt, die sich auf eine konsequente Nutzung der Innovationskraft der Mitarbeiter richten. Diese wurden primär als Kostenfaktor gesehen. Dies zeigen die vielfältigen Bemühungen, die Personalkosten zu senken. 

Nach wie vor dominiert in den Produktionsunternehmen eine stark hierarchische und funktional ausgerichtete Aufbauorganisation. Die Betriebe sind fast durchgängig den technischen Anlagen entsprechend gegliedert. Der tayloristisch-funktionalen Arbeitsorganisation entspricht das Denken der Mitarbeiter. Sie sind oft noch im Abteilungsdenken verhaftete Maschinenspezialisten. Die Nachteile solcher starrer Organisationsformen und Denkstrukturen treten insbesondere in wirtschaftlich schwierigen Situationen wie der aktuellen zutage. Dann erweisen sie sich als Barrieren, die grundlegende Problemlösungen behindern. Solche Problemlagen sind unter anderem

  • lange Instanzenwege, 
  • eine Vielzahl an Kompetenzabgrenzungen,
  • eine einseitige Qualifikation der Mitarbeiter,
  • eine mangelnde Motivation und fehlende Identifikation der Mitarbeiter mit dem Unternehmen sowie 
  • eine vordergründige Fixierung auf die Kostenstruktur.

Zudem bewirkte die vom Taylorismus geprägte Organisationsform insbesondere in der Fertigung ein auf Maschinentä­tigkeiten verengtes Denken. In ihm ist für eine Vorstellung vom Prozessfluss der Produktion kein Platz. Hierdurch wird die Austauschbarkeit des Personals stark begrenzt; ausserdem entwickeln die Mitarbeiter aufgrund ihrer eingeschränkten Handlungsspielräume kaum Formen des Mitdenkens.

Wo kapitalintensive Grossanlagen die Kostenrechnung prägen, wird generell eher selten an die Mitarbeiter im Zentrum des Geschehens gedacht. Gerechtfertigt wird die Vernachlässigung des Faktors Mensch damit, dass er in der betrieblichen Kostenstruktur nur eine geringe Bedeutung spielt. Schliesslich beträgt der Anteil der Personalkosten an den Gesamtkosten in vielen Industrieunternehmen nur 8 bis 15 Prozent. Deshalb wird hier kein Potenzial für durchgreifende Rationalisierungserfolge gesehen. Dabei wird übersehen, dass mit ebendiesen 8 bis 15 Prozent der Kosten der gesamte Prozess gesteuert wird, also das Vielfache anderer Kosten beeinflusst wird.

Mitarbeiterpotenziale nutzen

Deshalb ist eine elementare Managementaufgabe, das Leistungs- und Inno­vationspotenzial der Mitarbeiter voll zu nutzen. Als Königsweg hierzu erachtet das Business Reengineering die funktions- und bereichsübergreifende Teamarbeit; sei es in Form temporär arbeitender Teams (zum Beispiel Projektgruppen, KVP-Gruppen) oder in Form dauerhaft zusammenarbeitender Arbeitsgruppen (Gruppenarbeit). Der entscheidende Vorteil einer solchen Organisation liegt in den erzielten Synergieeffekten. Sie lassen sich mit der mathematisch unmöglichen Formel 2 + 2 = 7 beschreiben. Sie besagt, dass ein effektiv zusammenarbeitendes Team mehr leistet als die Summe der einzelnen Teammitglieder.

Die Forcierung der Teamarbeit als arbeitsorganisatorischem Grundmodell erinnert stark an die Gedankenwelt des Lean Management beziehungsweise der Lean Production. Das Business Reengineering geht aber einen Schritt weiter, indem es sämtliche Geschäftsprozesse neu ordnet; beispielsweise um den Durchlauf so schlank und kostengünstig wie möglich zu gestalten. Dabei fällt den Teams die Aufgabe zu, die durch das Reengineering bereits erreichten Leistungsstandards kontinuierlich zu verbessern. 

Diese Herangehensweise deckt sich mit Megatrends moderner Unternehmens­führung. Gerade in Branchen, die mit ­revolutionären technologischen Inno­va­tionen und einem relativ instabilen Umfeld (Märkte, Werkstoffpreise) konfrontiert sind, muss ein modernes Mana­gement nicht nur den Stellenwert der einzusetzenden Techniken und Technologien stets neu definieren. Es muss auch eine Organisationsform schaffen, die ein Höchstmass an Flexibilität und Effizienz beim Einsatz aller Ressourcen ermöglicht. 

Folglich muss sich das Management auch intensiv mit den Themen Arbeitsorga­nisation, Führung und Personalentwicklung und somit dem Erfolgsfaktor Mensch befassen.

Die Stellschrauben

Die folgenden Entwicklungslinien lassen sich bezüglich einer zukunftsorientierten Unternehmensführung nicht nur in der produzierenden Industrie konstatieren.

  • Führung: Das (Top-)Management muss sich verstärkt den strategischen Herausforderungen widmen und weniger Zeit im operativen Tagesgeschäft verbringen. Für das Wahrnehmen seiner gestalterischen Aufgaben (wie das Erschliessen neuer Geschäftsfelder) benötigt es ausreichend Freiräume. Deshalb müssen die Führungskräfte die vielfältigen Routinearbeiten, mit denen sie heute noch beschäftigt sind, weitestgehend delegieren.
  • Entscheidung/Kontrolle: Ein modernes Management delegiert Entscheidungskompetenzen von oben nach unten. Hierdurch wird das mittlere und obere Management entlastet. Aus der Fremdkontrolle wird eine laufende Selbstkontrolle und -organisation unterhalb der betrieblichen Führung. ­Dadurch entstehen die nötigen Freiräume, die die Führungskräfte unter anderem zum Gestalten der Zukunft brauchen.
  • Organisation: Durch das Zusammen­legen vormals getrennter Funktionen werden ganzheitliche Aufgaben geschaffen, die von den Mitarbeitern bzw. Teams selbstverantwortlich erledigt werden. Dadurch wird für die Mitar­beiter wieder erkennbar, welche Bedeutung ihre Tätigkeit für das Unternehmen hat. Dies steigert ihr Verantwortungsgefühl und ihre Identifikation mit dem eigenen Tun. Ausserdem wird das «Wir»-Gefühl gefördert.
  • Produkte: Die verschärfte Konkurrenzsituation erfordert eine hohe Qualität der Produkte und Leistungen; zum ­einen, um eine optimale Kundenzu­friedenheit zu sichern, zum anderen, um Verschwendung zu vermeiden. So können zum Beispiel über eine Verringerung des Ausschusses die Kosten gesenkt und Abschläge infolge mangelhafter Qualität vermieden werden. Dies steigert die Rentabilität und verbessert das Betriebsergebnis sowie die Konkurrenzfähigkeit.
  • Strategie: Zur Verbesserung des Betriebsergebnisses trägt auch eine Konzentration der Unternehmensaktivitäten auf das Kerngeschäft und die Kernkompetenz (Stärken nutzen, rentable Geschäftsbereiche ausweiten) bei. Eine Steigerung der Wertschöpfung wird ausserdem durch den Ausbau der Kernkompetenz und ein gezieltes Outsourcing unrentabler Geschäftsbereiche ­erreicht.

Prozessorientierte Organisation 

Wo die skizzierten Entwicklungslinien eines modernen Management- und Führungsstils greifen, löst eine prozessorientierte Aufbau- und Ablauforganisation die traditionellen Formen der Unternehmensorganisation ab. In den Mittelpunkt der Betriebsorganisation rücken Anstrengungen, die darauf abzielen,

  • die Auftragsdurchläufe zu beschleunigen,
  • Schnittstellen der Geschäftsprozesse als mögliche Fehlerquellen auszuschalten und
  • Massnahmen zur Verbesserung der Ergebnisse einzuleiten.

Zugleich treten alle Formen von oben praktizierter zentralistischer Planung und Kontrolle in den Hintergrund. Darauf aufbauende Fitness-Programme und Reorganisationsprojekte verfolgen das Ziel, die Potenziale auf der Shopfloor-Ebene beziehungsweise vor Ort besser zu nutzen, indem sie auf Dezentralisierung setzen; ausserdem auf die Kompetenz, Eigenverantwortung und Selbstorganisa­tionsfähigkeit der Mitarbeiter.

Das Erreichen solcher Zielsetzungen ist nur mit kreativen, lernfähigen, engagierten und eigeninitiativen Mitarbeitern möglich. Deshalb ist es eine zentrale Managementaufgabe, die Voraussetzungen zu schaffen, dass die Mitarbeiter ihr Potenzial voll entfalten können. Dies gelingt am besten durch das Einführen einer teamorientierten Arbeitsorganisation.

So weitreichende Eingriffe in die bestehenden Strukturen, wie sie das Business Reengineering vollzieht, verlaufen nicht immer konfliktfrei. Probleme ergeben sich vor allem in Unternehmen(-sbereichen), die noch wenig Erfahrung mit der Teamarbeit haben. Ermöglicht die Reorganisation zudem umfangreiche Stellenkürzungen, die zuweilen zum Profitabel-arbeiten erforderlich sind, dann erweist es sich auch oft als schwierig, bei der Belegschaft ausreichend Akzeptanz für die Veränderungsmassnahmen zu erzielen.

TQM-Erfahrungen hilfreich

Von Vorteil ist es dann, wenn im Unternehmen bereits Erfahrungen mit dem ­Total Quality Management (TQM), dem kontinuierlichen Verbesserungsprozess (KVP) oder dem Lean Management vorliegen. Denn TQM und KVP erziehen die Mitarbeiter ebenso wie das Arbeiten in Gruppen und Teams zum funktionsübergreifenden Denken. Deshalb sind Unternehmen, die entsprechende Change-Projekte schon durchlaufen haben, in der Regel reifer als andere. Das heisst, diese Unternehmen können die Reengineering-Philosophie leichter aufnehmen und umsetzen, denn das Business Reengineering beinhaltet Elemente aus all diesen Ansätzen.

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