Wer kennt die Situation nicht? Stundenlang brüten wir im Büro über der Lösung für eine Aufgabe. Sie fällt uns nicht ein. Kaum sind wir jedoch zu Hause, haben das Radio angeschaltet und im Sessel Platz genommen, ist sie plötzlich da: die Idee. Wir müssen sie nur noch umsetzen. Oder: Seit Tagen grübeln wir über eine neue Strategie, wie wir ein Ziel erreichen. Alles scheint in unserem Kopf festgerostet; nur unbefriedigende Lösungen fallen uns ein. Doch dann abends im Restaurant lässt ein Bekannter eine Bemerkung fallen, und plötzlich macht es «Klick». Wir haben die Lösung; sie ist so einfach und doch so genial, dass wir uns wundern, dass wir sie nicht bereits früher fanden.
Im zweiten Fall wissen wir zumindest, was uns auf die zündende Idee brachte: die Bemerkung des Bekannten. Im ersten Fall werden wir es vermutlich nie wissen: War es der Geruch der Bratkartoffeln aus der Küche, die Nähe unserer Liebsten oder die Bequemlichkeit unserer Freizeithose? Beiden Beispielen ist jedoch gemeinsam: Sie beziehen sich auf Situationen, in denen wir uns entspannen und wohl in unserer Haut fühlen – Situationen also, in denen uns kein Stress, kein Zeitdruck und keine Angstzustände plagen, weshalb unsere Gedanken sich frei entfalten und neue Wege beschreiten können.
Kreativität für neue Wege
Womit wir bereits beim Thema Kreativität wären. Viele Menschen glauben, manche Personen verfügten über sie, anderen fehle sie völlig. Diese Annahme ist falsch. Denn ihr liegt meist ein Kreativitätsverständnis zugrunde, das sich rein auf Tätigkeiten im musisch-künstlerischen oder grafisch-gestalterischen Bereich bezieht. Doch Kreativität ist bei allen schöpferischen Tätigkeiten gefragt – beim Entwickeln neuer technischer Lösungen ebenso wie in der Musik und beim Entdecken und Erschliessen neuer Geschäftsfelder ebenso wie in der Malerei. Kreativität brauchen wir immer, wenn wir neue Wege beschreiten müssen, um Aufgaben zu lösen – und dies ist in der von rascher Veränderung sowie sinkender Planbarkeit geprägten Vuka-Welt (Volatilität, Unsicherheit, Komplexität und Ambiguität/Ambivalenz) und in einer Zeit, in welcher sich die digitale Transformation der Wirtschaft vollzieht, sehr oft der Fall. Wie oft wir in unserem Lebens- und Arbeitsalltag kreativ sein müssen, sei an zwei einfachen Beispielen erläutert. Angenommen Kinder fragen uns, wie eine Glühbirne funktioniert. Dann müssen wir ihnen dies in ihrer Sprache erklären. Das erfordert Kreativität, da wir auf Begriffe wie elektrische Spannung, Volt, Ampere verzichten müssen. Ähnlich verhält es sich im beruflichen Bereich, wenn wir vor einer neuen Herausforderung stehen. Auch dann müssen wir meist vom gewohnten Vorgehen abweichen und einen neuen Lösungsweg finden. Stets wenn wir gewohnte Denk- und Verhaltensmuster aufgeben und neue Wege beschreiten müssen, ist Kreativität gefragt.
Kreativitätsfaktoren
Inwieweit wir dazu fähig sind, hängt von vielen Faktoren ab – unter anderem:
Kompetenz
Wenn wir nicht wissen, wie eine Glühbirne funktioniert, können wir es auch nicht unseren Kindern erklären. Wir können ihnen höchstens eine Fantasiegeschichte erzählen. Ebenso verhält es sich im beruflichen Bereich, wenn wir beispielsweise fachfremden Personen (Mitarbeitern, Kunden, Kollegen) komplexe Zusammenhänge möglichst einfach, in deren Sprache erklären müssen.
Erfahrung
Wenn wir Kindern schon oft schwierige Zusammenhänge erklärt haben, wissen wir, welches Vorverständnis sie in der Regel haben, und können dies bei unseren Erklärungsversuchen berücksichtigen. Entsprechendes gilt für Gespräche mit Kunden/Mitarbeitern im beruflichen Alltag. Auch hier hilft uns unsere Erfahrung, deren Sprache zu sprechen.
Körperliche und geistige Verfassung
Wenn wir müde und abgespannt sind, bringen wir beim Beantworten der Fragen unserer Kinder wenig Geduld und Fantasie auf. Entweder wir sagen einfach «Das verstehst du noch nicht» oder wir reagieren gereizt, wenn sie unsere Erklärung nicht sogleich verstehen. Auch hier bestehen Parallelen zum Berufsalltag: Auch dort zeigen wir oft eine Abwehrhaltung, sofern wir uns schlapp, müde und überfordert fühlen, wenn eine neue Aufgabe an uns herangetragen wird. «Das geht nicht, weil …». Oder wir reagieren gestresst und gereizt. Unsere Muskulatur verspannt sich. Unser Puls- und Blutdruck steigen sowie unsere Atemfrequenz und -tiefe. Und wir verfallen in ein lineares, starres Denken – ein Zustand, der das Finden kreativer Lösungen blockiert.