Mitarbeiterkontrolle
Social Media, aber auch Anwendungen wie Skype for Business, zeigen jederzeit an, ob jemand «online» ist und was die Person gerade macht. UPS misst bereits seit einigen Jahren mit Sensoren, wann die Türen ihrer Lieferwagen geöffnet und wann sie geschlossen werden, wann der Motor startet und ob die Mitarbeiter angeschnallt sind. Die Investmentbank Barclays ging sogar so weit, unter den Schreibtischen der Angestellten Sensoren anzubringen, welche erkennen, ob jemand gerade anwesend ist. Amazon hat ein Überwachungsarmband registriert, mithilfe dessen präzise Armbewegungen der Mitarbeitenden getrackt und mittels Vibrationen in eine bestimmte Richtung geleitet werden können.
Und bei der US-Firma «Three Square» liessen sich Angestellte freiwillig kleine Mikroprozessoren implantieren, mit denen es möglich ist, kontaktlos Türen zu öffnen, sich in den PC einzuloggen und Essen in der Kantine zu bezahlen. Zwar betont Todd Westby, der Chef von Three Square, dass Mitarbeitende nicht getrackt würden. Dennoch lässt sich im Prinzip mit Mikrochips eine lückenlose Überwachung der zu Cyborgs mutierten Angestellten sicherstellen (Lobe, 2018). Wo genau in der Welt diese Daten gesammelt werden und was mit ihnen geschieht, bleibt unklar.
Abstand halten
Die Digitalisierung stellt mit diesen neuerdings zugänglichen Informationen ganz generell das Wertesystem von Unternehmen auf die Probe. Ebenfalls betroffen sind Führungsstile, die Art und Weise der internen Kommunikation, aber auch das Qualitätsbewusstsein und die Unternehmenskultur als Ganzes. Jede Firma ist im Angesicht der disruptiven Veränderungen gefordert, bezüglich des Umgangs mit «weichen Faktoren» aktiv und zeitnah eine Haltung zu entwickeln und vorzuleben. Wer hat beispielsweise Zugang zu verfügbaren Daten? Oder was geschieht mit diesen Daten? Werden solche essenziellen Fragen nicht explizit geklärt und proaktiv kommuniziert, besteht die Gefahr, dass mitarbeiterseitig Mutmassungen, Gerüchte und Halbwahrheiten spriessen wie Giftpilze im Dunkeln.
Die fatale Möglichkeit, dass Unternehmen alles wissen könnten, kann eine Vertrauenskultur massiv untergraben. Der bekannte deutsche Managementautor Reinhard Sprenger bringt es deshalb auf den Punkt: «Anständige Unternehmen halten Abstand.» Sie tun nicht alles, was technisch möglich ist, sondern verzichten bewusst auf digitale Zudringlichkeiten (Sprenger, 2015).
Freiräume als Vorleistung
In Volkswirtschaften mit hohen Lohnkosten wie etwa der Schweiz hängt der Erfolg von Unternehmen stark von deren Innovationsfähigkeit ab (Waibel und Käppeli, 2015). Innovationen bedingen zwingend menschliches Zutun. Deshalb braucht es individuelle Freiräume für und Vertrauen in die Mitarbeitenden. Vertrauen in Organisationen setzt das Erbringen von riskanten Vorleistungen voraus. Eine solche Vorleistung kann zum Beispiel darin bestehen, dass man nicht alles über das Verhalten eines Partners weiss und dennoch darauf vertraut, dass der Partner sich hinsichtlich gemeinsamer Normen konform verhalten wird (Waibel, 2015).
In einer Vertrauenskultur nimmt ein Unternehmen gegenüber Mitarbeitenden bewusst ein «Nicht-Wissen» in Bezug auf das Verhalten eines Mitarbeitenden ein. Vertrauensvolle Firmen erbringen also die Vorleistung des «Nicht-Wissens» und gewähren den Mitarbeitenden dadurch Freiräume. Eine solche Vorleistung des «Nicht-Wissens» kann beispielsweise Kontrollverzicht in Bezug auf Zeit und Ort der Arbeit von Mitarbeitenden sein (gelebt etwa in der Ermöglichung für Home Office oder dem Verzicht auf Arbeitszeiterfassung). Die Firma erwartet im Gegenzug Selbstverantwortung für die individuelle Zielerreichung jedes Mitarbeitenden (Sprenger, 2018).
In unserer digitalisierten Welt, in der bereits jetzt nicht nur jeder einzelne Arbeitsschritt, sondern auch die Verweildauer in Applikationen oder die aktuelle Verfügbarkeit von Mitarbeitenden erfasst werden kann, fällt diese Vorleistung des «Nicht-Wissens» grundsätzlich weg. Zudem ist oft unklar, wer genau zu welchen elektronisch verfügbaren persönlichen Informationen Zugang hat und wie diese verwendet werden. Wenn es beispielsweise möglich ist zu sehen, wer wann und wo im System eingeloggt ist, muss gleichzeitig geregelt werden, wer Zugang zu solchen Daten hat und wer die Informationen wie verwenden darf.
Damit das so eminent wichtige bestehende Vertrauen nicht zerstört wird, sind Unternehmen gefordert, die in einer digitalisierten Welt wegfallende Vorleistung des «Nicht-Wissens» durch die Vorleistung des bewussten «Nicht-Wissen-Wollens» zu ersetzen. Damit werden Mitarbeitenden willentlich Freiräume gewährt und so aktiv Vertrauen geschaffen. Diese Vorleistungen sind explizit in einem Leitbild, Führungsverständnis oder Code of Conduct festzuhalten und von den Führungspersonen des Unternehmens konsequent vorzuleben. Papier ist geduldig – auch Firmengrundsätze werden an konkreten Taten gemessen.
Auf Vertrauen setzen
Alles, was technisch machbar ist, wird natürlich auch gemacht. Es ist zu hoffen, dass inländische Unternehmungen auch weiterhin stark auf Vertrauen und damit auf ihre Innovationskraft setzen. Nur so kann die Schweizer Wirtschaft ihre ausgezeichnete Wettbewerbsfähigkeit weiterhin erhalten und stetig weiterentwickeln. Vertrauen als Basis einer starken Unternehmenskultur, welche sich positiv auf die Innovationsfähigkeit der Firmen auswirkt, wird dabei ein entscheidender Erfolgsfaktor sein. Gleichzeitig ist Vertrauen so fragil wie der Flügel eines Schmetterlings und kann weder verordnet noch herbeigemanagt werden. Gerade weil künftig technologisch (fast) alles möglich sein wird, werden sich ethisch verpflichtete und systemisch denkende Führungspersonen in ihren Unternehmen ganz bewusste digitale Selbstbeschränkungen auferlegen, um sich dieses so wichtige Vertrauen zu verdienen.