Der Kaffeefilter-Effekt (Wahrnehmung ist subjektiv)
Man kann sich unsere Wahrnehmung auch als Filterprozess vorstellen: In einen Kaffeefilter fliesst oben fast 100 Grad Celsius heisses Wasser. Unten kommt ein braunes Getränk heraus mit knapp 90 Grad Celsius – je nach Maschine und Geschmack des Kaffeetrinkers ist dies Filterkaffee, ein Ristretto oder ein Lungo Forte. Im Filter bleiben erstens Informationen (Temperatur, Kalkpartikel, eventuell Schmutz) hängen. Zweitens wird das heisse Wasser im Brühprozess mit Aromastoffen, Farbstoffen und natürlich auch mit Koffein angereichert. Die zuerst reduzierte Information wird also im übertragenen Sinne «gefärbt». Dieselben Effekte gibt es in unserer Informationswahrnehmung: Wir nehmen nur einen Teil der Informationen wahr und interpretieren diese Informationen mit unserem ganz individuellen Kaffeefilter beziehungsweise Weltbild.
Im Stakeholder-zentrierten Coaching 3.0 werden mehrere Sichtweisen auf dieselbe Ausgangsinformation gerichtet. Dadurch werden tatsächlich existente Verhaltensveränderungen weniger subjektiv herausgefiltert. Die unterschiedlichen Interpretationen der Stakeholder ergeben zusammen einen besseren «Blend». Diese oben aufgezeigten Wahrnehmungsverzerrungen müssen bewusst gestaltet werden, um den Nutzen von Coaching weiter zu optimieren.
Stakeholder aktiv einbinden
Coaching-Prozesse basieren häufig auf Leadership Assessments und fokussieren in der Folge auf Massnahmenplanung. Die Führungskraft versteht intellektuell, wo eine Veränderung ihres Führungsverhaltens wünschenswert ist, und erkennt auch, wie diese Veränderung zu mehr Effektivität führt. Obwohl dieser Schritt zu Beginn eines Coaching-Prozesses zur Definition der Veränderungsabsichten entscheidend ist, endet er leider oftmals in einer langen Liste guter Absichten, die grösstenteils niemals das Tageslicht erblicken. Und selbst wenn sie umgesetzt werden, so bedeutet das deshalb noch lange nicht, dass sich auch die Wahrnehmung des Umfelds verändert und die beabsichtigte Veränderung tatsächlich wahrgenommen wird.
Diese Wahrnehmung ist jedoch letztlich für den Erfolg eines Coaching-Prozesses mitentscheidend. Stakeholder-zentriertes Coaching 3.0 führt den Prozess deshalb um einen entscheidenden Schritt weiter: über den Tellerrand des Executive-Büros hinaus und in das Arbeitsumfeld der Führungskraft mit ihren diversen Interessengruppen (engl. Stakeholder). Diese Stakeholder werden von Anfang an in den Prozess mit eingebunden und können so wichtige und hilfreiche Erkenntnisse und Empfehlungen für Verhaltensänderungen liefern.
Doch damit nicht genug: Durch diese aktive Einbindung verändert sich auch gleichzeitig die Wahrnehmung der Stakeholder, denn diese achten nun bewusst auf positive Veränderungen im Führungsverhalten der Führungskraft. Haben die Stakeholder nämlich gegenüber anonym ausgestalteten Coachings Kenntnis von den Coaching-Zielen und der Unterstützung, können Verhaltensveränderungen eher gesehen und auch verstanden werden. Beispielsweise ist der Chef nach dem als «Privat» bezeichneten externen Termin nicht auf einmal so «anders», sondern man kann als Peer oder Mitarbeiter nachvollziehen, dass eine Entwicklung stattfindet. Diese Form von Executive Coaching bietet durch ihre nachhaltig wahrgenommene Umsetzung von Veränderungen in der Praxis einen echten Mehrwert – denn Wahrnehmung ist Realität.
Der praxisbewährte Prozess
Der Stakeholder-Centered-Coaching-Ansatz folgt einem klar strukturierten Prozess, der sich in der Praxis bereits hundertfach bewährt hat. Zu Beginn steht eine Standortbestimmung, die einerseits aus dem klassischen 360-Grad-Assessment besteht. Dafür wurde von Marshall Goldsmith ein entsprechendes Instrument entwickelt, das besonders für Führungskräfte im Corporate-Umfeld geeignet ist und als «Global Leader of the Future», kurz GLOF, bekannt ist.
Doch auch andere Tools können hier natürlich eingesetzt werden, insbesondere wenn ein Unternehmen bereits ein entsprechendes Instrument im Einsatz hat. Dieses strukturierte Assessment wird ergänzt durch Verhaltensinterviews, die der Coach mit den sechs bis acht wichtigsten Stakeholdern des Klienten führt. Diese Interviews dienen in erster Linie dazu, vermehrt konkrete Beispiele sowie Erfahrungen in die Standortbestimmung miteinzubeziehen. Zudem dienen sie einem ersten vertrauensbildenden Kontakt zwischen Coach und Stakeholdern, bei dem deren Unterstützung in der Entwicklung der Führungskraft entsprechend
gewürdigt und die Bereitschaft zum weiteren Engagement im Prozess gefördert werden kann.
Die gesammelten Informationen werden entsprechend anonymisiert und in einem Bericht zusammengefasst, den der Coach mit der Führungskraft bespricht. Der Klient wählt daraus anschliessend ein bis maximal zwei konkrete Entwicklungsfelder für den Coaching-Prozess aus. Diese präsentiert er daraufhin in einem Stakeholder-Briefing, sodass diese wissen, woran die Führungskraft in den kommenden Monaten arbeiten wird. Von hier aus startet der eigentliche Coaching-Prozess, der aus einem sich monatlich wiederholenden iterativen Prozess aus drei Phasen besteht:
Phase 1
In Phase eins wendet sich der Coachee an die Stakeholder und holt Feedback und sogenanntes Feedforward ab. Vorstellen kann man sich das wie die Fahrt in einem Auto: Durch den Rückspiegel sehe ich, woher ich komme, was dem Feedback entspricht. Um dem Negativity Bias Rechnung zu tragen, heisst die entsprechende Frage: «Welche positive Entwicklung haben Sie in meinem Führungsverhalten in den letzten vier Wochen beobachtet?» Es wird also nach positiven Veränderungen in der Vergangenheit geforscht. Durch die Frontscheibe sehe ich, wohin ich fahre und wie ich die nächsten Kurven nehmen muss, was dem Feedforward entspricht.
Die Frage hier heisst: «Was kann ich in den nächsten vier Wochen tun, um unsere Arbeitsbeziehung noch effektiver zu gestalten?» An dieser Stelle wird der Stakeholder vom Betroffenen zum Beteiligten, indem er aktiv zum Entwicklungsprozess beitragen kann. Zudem nimmt er eine weitere wichtige Rolle ein. Um beim Bild des Autofahrens zu bleiben: Genauso wie im Aussenspiegel des Autos ein toter Winkel existiert, haben wir in unserem Verhalten blinde Flecken. Bereiche also, die uns nicht bewusst sind, von anderen aber wahrgenommen werden.
Das Feedback sowie das Feedforward der Stakeholder und der Austausch mit dem Coach schaffen hier Abhilfe und führen zu einer Reduktion der blinden Flecken. Genau genommen hat der Coachee also nicht nur einen Coach als Sparringspartner, sondern alle Stakeholder unterstützen ihn als Reflexionspartner.
Phase 2
In der Phase zwei werden die Inputs der Stakeholder von der Führungskraft reflektiert und mit dem Coach besprochen. Der Coach ist hier in seiner klassischen Rolle und unterstützt den Klienten mit entsprechenden Fragestellungen und Methoden sowie bei der Analyse und Synthese der diversen Rückmeldungen der Stakeholder. Der Klient entscheidet sich wiederum für einige wenige Schwerpunkte, auf die er oder sie in der nächsten Periode besonderes Gewicht legen will.Aus den jeweiligen Coaching-Sitzungen heraus resultiert ein entsprechender Aktionsplan, der als Grundlage für die praktische Umsetzung in Phase drei dient. Hier schliesst sich der Kreis, indem nach einem Monat wiederum die informelle Stakeholder-Befragung erfolgt. Diese kann im Übrigen durchaus informell bei einem Kaffee, am Telefon oder – wenn nicht anders möglich – ausnahmsweise auch via E-Mail erfolgen.
Der Prozess läuft in der Regel über zwölf Monate. Während dieses Zeitraumes werden die Stakeholder zwei- bis dreimal über eine strukturierte Onlineabfrage, den sogenannten Leadership Growth Progress Report oder kurz LGPR, nach deren Einschätzung des Entwicklungsprozesses befragt. So entsteht letztlich eine strukturierte, standardisierte und messbare Bewertung der beabsichtigten Veränderung aus Sicht der betroffenen Stakeholder.