Rollen gestalten
In der Selbstorganisation haben die Positionen in der Organisation nach innen weniger Bedeutung. Dafür werden die verschiedenen Rollen der Beteiligten viel wichtiger.
Neue Fragen stellen sich:
- Wer hat welche Rollen und was heisst dies konkret bezüglich der damit einhergehenden Verantwortung?
- Was trage ich in meiner Rolle zum Purpose der Organisation(seinheit) bei?
- Was heisst es im Alltag, wenn die Zusammenarbeit rollenbasiert ist und sich nicht mehr daran orientiert, wer welche Position und Macht hat?
Alle Mitarbeiter sind ständig eingeladen, sich bewusst zu sein, aus welcher Rolle sie gerade handeln und sprechen und wann sie schweigen sollten. Rollenklärungen gehören zum Alltag der Kollaboration und bekommen Gefässe dafür (zum Beispiel Tension-Meetings). Dies verschafft Rollenklarheit und unterstützt die effektive Zusammenarbeit. Der CEO kann diesen, am Anfang aufwendigen Prozess der Rollengestaltung vorantreiben, indem er sich daran beteiligt, indem er in der Arbeit mit dem Führungsgremium (Governance) beispielhaft vorangeht und auch dort die Rollenklärungen vornimmt.
Einladungen aussprechen
Auf dem Weg der Transformation hin zu einer Selbstorganisation gibt es unzählige Themen, die neu organisiert werden müssen. Der CEO hat dabei die Aufgabe, wenn solche neuen Themen aufkommen, echte Einladungen auszusprechen, zum Beispiel indem er fragt:
- «Wer ist interessiert, eine neue, auf Selbstorganisation und Selbstverantwortung basierte Spesenregelung zu erarbeiten.» Oder:
- «Wie gestalten wir den On-Boarding-Prozess auf Grundlage der Werte der Selbstorganisation neu?» Oder:
- «Wie können wir vollständige Transparenz für alle Mitarbeitenden schaffen in Bezug auf Wertschöpfung in der Organisation, damit alle Mitarbeitenden ihre Verantwortung wahrnehmen können?»
Der CEO hilft, diesen Prozess zu gestalten, ohne seinen Stempel aufzudrücken. Er ist am Anfang der Treiber der Transformation, indem er, wenn Fragestellungen aufkommen, offene Einladungen ausspricht und «Ressourcen spricht». Wer die neuen Rollen dann letztendlich übernimmt, entscheidet nicht er, sondern es folgt aus dem vereinbarten Entscheidungsvorgehen.
Kontexte schaffen, damit andere entscheiden können
In der pyramidalen Organisation ist der CEO der höchste Entscheidungsträger. In der Transformation zur Selbstorganisation mit verteilter Macht benötigt es also für viele Entscheidungen einen neuen Kontext. Diese Aufgabe hat der CEO, er hilft, dass Kontexte geschaffen werden, damit Entscheide einfach und selbstorganisiert getroffen werden können.
Der CEO unterstützt das kollektive Lernen mit anfangs ungewohnten Praktiken und ist Rollenvorbild für die praktische Umsetzung. Er unterstützt in dieser Rolle zum Beispiel die Gestaltung von neuen Formen der Entscheidungsfindung, wie dem Beratungs- oder dem Konsent-Entscheidungsprozess. Im Konsent-Entscheidungsprozess ist das Argument entscheidend und nicht die Positionsmacht.
Der CEO «spricht kein Recht», entscheidet also nicht, wie zu handeln ist, wenn Spannungen zwischen Rollen oder Interessengruppen auftreten, sondern indem er vorlebt, wie man zu Lösungen kommt, ohne in die alten Problemlösungsmuster zurückzufallen, zum Beispiel: «Die weiter oben sollen es lösen.» Er macht dies durch verschiedenste Interventionen, indem er zum Beispiel von den Rollenverantwortlichen einfordert, dass sie selber entscheiden und nicht «nach oben» die Verantwortung delegieren.
Der CEO muss natürlich selbst mit gutem Beispiel vorangehen in der Transformation, indem er sich auch für seine eigenen Fragen und Unsicherheiten Input im Unternehmen einholt, sich Zeit nimmt für seinen eigenen Reflexions- und Lernprozess.
Der CEO führt die Transformation an, mit all dem, was er tut und unterlässt. So lange, bis eine genügend grosse Anzahl von Mitarbeitenden an Bord ist. Um bei dem Bild zu bleiben: Wenn sich das Schiff der Transformation mehr und mehr selbstorganisiert durch die Wellen bewegt, wenn nicht mehr der Skipper alle Massnahmen ankündigt, wenn die rechte Hand weiss, was die linke Hand tut, wenn die Selbstregulation greift, dann benötigt es den CEO vor allem, um den Raum zu geben und sich selber dabei mehr und mehr zurückzunehmen.
Dann ist die Organisation ein bewegliches und lebendiges Netzwerk am Werden, von Menschen, die miteinander Werte schaffen wollen für andere. Und dann übernimmt der CEO arbeitsteilig gewisse Verantwortungen – nicht weil er CEO ist, sondern weil er das besonders gut kann.
Ich selber bin überzeugt, dass selbst wenn dieser Zustand erreicht ist, es eine Form von übergeordneter Führung benötigt, unter anderem durch einen CEO oder durch ein Leitungsteam im Sinne einer geteilten Führung (Governance).
Die beschriebene grundlegende Transformation zu geteilter Macht benötigt viel Führung, auch weil die Selbstorganisation eine klarere, diszipliniertere Organisation als andere Organisationsformen ist. Aufgrund meiner Erfahrungen in der Begleitung solcher Transformationen sind die erarbeiteten Strukturen und Prozesse die neue Hierarchie in der Organisation. Solange diese nicht hinterfragt und überarbeitet werden müssen, sind diese verbindlich für alle. Wer sich nicht daran hält (der CEO inklusive), muss mit kritischem Feedback rechnen.
Fazit
Es ist kein Paradox, in der Selbstorganisation einen CEO oder ein Führungsteam zu haben. Es kommt auf das Führungsverständnis an. Selbstorganisation benötigt ein ganz anderes Führungsverständnis, mit neuen, noch wenig gelernten Führungsfähigkeiten. Alle Mitarbeitenden führen, innerhalb der vereinbarten Rollen. Jeder und jede ist Führungskraft. Ein Führungskader gehört somit zum Vokabular der Vergangenheit. Es gibt kein Unten und Oben mehr, sondern ein Miteinander: power with.
Anmerkung des Autors: Im Verlauf des Schreibens habe ich mich entschieden, fünf CEOs und einen Amtsleiter um Feedback zu bitten. Sie führen in ihren Organisationen genau diese Art von Transformation an und haben mir aus ihrer Perspektive Feedback gegeben. Ich habe dies einfliessen lassen in meinen Artikel. Mein herzlicher Dank geht an Samuel Bon (CEO Swisscontact), Laurent Decrue (CEO Movu), Hermann Arnold (VR-Präsident und CEO a.i. Haufe Umantis), Jean-Pierre Kuhn (CEO Modissa), Daniel Humbel (CEO Transa) und Frank Heinzmann (Leiter Amt für Bildung und Sport).