Chaotische Systeme
Und dann gibt es die chaotischen Systeme, zum Beispiel das Finanzsystem oder auch die Weltpolitik. Hier gibt es so unendlich viele Einflussfaktoren, die die weitere Entwicklung bestimmen, dass wir keinen Einfluss mehr darauf haben. Bei diesen Systemen gibt es keine klaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Es gibt eine Vielzahl von Ursachen, eine Vielzahl an Kräften, die irgendwo wirken – aber das Ergebnis kann keiner voraussagen. Letztendlich führt es dazu, dass auch wir uns in dieser Welt ganz anders bewegen müssen. Schritt für Schritt … und nach jedem kleinen Schritt müssen wir schauen, was passiert.
Komplex und chaotisch – das ist letztendlich das Umfeld, in dem die ganzen agilen Techniken extrem werthaltig sind, in dem wir mit Scrum wunderbar agieren können. Das Schlimmste, was passieren kann, ist, dass wir diesen Systemen mit unserem Best-Practice-Ansatz entgegengehen. Dann habe ich einen Plan, der auf etwas reagiert, was ich gar nicht abschätzen kann – und der letztendlich schon im dritten Schritt so fürchterlich falsch sein kann. Ohne das Bewusstsein, dass etwas falsch laufen könnte, schaue ich aber schlimmstenfalls nicht einmal darauf, um das, was passieren könnte, vielleicht tatsächlich noch händeln zu können.
Nehmen wir beispielsweise Change-Prozesse als hochgradig chaotische Systeme. Ich weiss nicht, wann welcher Mitarbeiter ein Burnout hat und ausfällt. Das hängt nicht nur davon ab, wie hoch der Druck im Unternehmen ist oder wie fest eine Führungskraft die Daumenschrauben anzieht, sondern vielleicht auch davon, was im privaten Umfeld ist – oder es geht gerade ein Virus um, das ihn dann noch zusätzlich lahmlegt. Das sind alles Dinge, die können wir nicht vorhersehen, das sind Dinge, die müssen wir anders (er)klären und vor allem anders angehen. Vor allem brauchen wir dazu aber ein breites Toolset, um nach einem prüfenden Blick zunächst zu entscheiden, welche Schritte wann nötig sind, und dann natürlich die richtigen Methoden anzuwenden.
Zeit nehmen für die Analyse
Bilden diese vier Systeme oder Strukturen die Basis, kommt jetzt der entscheidende Schritt: zu überlegen, in welchem Feld sich die Aufgabe befindet, die ich gerade zu bewältigen habe. Häufig nehmen wir uns nicht die Zeit dazu und agieren dann mit unserem Autopiloten. Haben wir einen Autopiloten, der sagt: «Ich brauche Prozesse», dann suchen wir immer in der Prozessebene nach der Lösung für ein Problem. Sind wir jemand, der eher auf der komplexen Ebene unterwegs ist, gehen wir Aufgaben und Probleme auch so an: «Okay, dann probiere ich mal und schaue einfach, was passiert …» Die Herausforderung lautet also, herauszufinden, in welcher Struktur das aktuelle Problem zu Hause ist. Gibt es einen klaren Ursache-Wirkungs-Zusammenhang? Oder ist das System eher komplex? Befinden wir uns in einem «disordered» Raum, helfen diese Fragen, um zu entscheiden, was das beste Mittel ist. Dann springt nicht der eigene Autopilot an, sondern wir steuern eine Vorgehensweise an, die der jeweiligen Situation am besten entspricht.
Technologie und Mensch
Stellen wir Menschen die Frage, was das Schlimmste wäre, was sie am meisten befürchten, wenn es um die fortschreitende Digitalisierung geht, lautet die Antwort häufig: Es ist die Angst, die Menschlichkeit zu verlieren. Wir befürchten, dass es beispielsweise durch KI bald überhaupt keine Balance mehr gibt zwischen uns als menschlichen (und bekanntermassen unperfekten) Wesen und der (so viel perfekteren) «Natur» der Technologie, dass die Vercomputerisierung und Verdigitalisierung den Menschen einfach irgendwann ablöst.
Wollen wir die Menschen in Zukunft mitnehmen, müssen wir diese Ängste berücksichtigen – vor allem in der Führung. Und dafür gibt es einige Möglichkeiten und Strategien, an denen wir schon jetzt arbeiten sollten, um der zunehmenden Digitalisierung immer wieder einen Konterpunkt zu setzen – mit unserer Menschlichkeit. Denn genau die wird gebraucht, um technische Lösungen sowohl zu entwickeln als auch umzusetzen. Wir brauchen Experten – und zwar nicht nur einzelne, sondern deren Zusammenwirken, um den immer mehr werdenden komplexen Strukturen (wie eingangs im Cynefin-Framework beschrieben), beispielsweise in der zunehmenden Technisierung und Technologisierung, gewachsen zu sein.
Eine Idee ist es, Orte festzulegen und zu gestalten, an denen man sich bewusst persönlich trifft, also eine Balance zwischen digitalen und menschlichen Berührungspunkten zu schaffen. Eine Vernetzung über Plattformen im Internet oder Social Media, die zum persönlichen Kennenlernen oder gemeinsamen Tun aufrufen, kennen wir beispielsweise von Dating-Portalen oder Hobby-Netzwerken/Gruppen. Wichtig ist es dabei, Skills in beide Richtungen auf- und auszubauen, also sowohl die Fähigkeiten, mit der Technik umzugehen, aber auch Kompetenzen, um nicht vollkommen von der Technologie abhängig zu sein.
Dabei kann uns die Digitalisierung gute Dienste leisten – wenn wir die Zeit, die wir durch sie einsparen, für mehr menschliche Interaktion einsetzen. Ja, die Technologie wird zum Ermöglicher, aber wir Menschen bleiben die Gestalter. Nutzen wir also jede Chance, um die Diskussion zur Digitalisierung immer wieder zurück zum Menschen zu führen. Dann können wir uns nicht nur behaupten, sondern werden gemeinsam weiterwachsen, uns sozusagen technisch und menschlich transformieren. Und bleiben als Menschen immer in Verbindung.